CAPTAIN C.- SEEMANN, ENTDECKER, KARTOGRAF. EINE VORSTELLUNG erübrigt sich. Was er geschrieben hat,überliefern uns dicke Bände. Wieder und wieder ist es neu gedruckt, neu kommentiert, neu hinterfragt worden. Auch die Zeugnisse der anderen Teilnehmer seiner drei Weltfahrten liegen vor, insgesamt also Material genug, noch mehr Bände zu füllen und nun Elektronisches. Neue Geistesschlachten zeichnen sich ab über seine Bedeutung als Entdecker des Unentdeckbaren, als vom britischen Imperialismus mißbrauchte Galionsfigur globaler Machtausbreitung, als treuer Ehegatte, der den Anfechtungen pazifischer Schönheiten stets widerstand: in Dissertationen zur Erlangung von Doktorwürden und in Diplom- wie Magisterarbeiten, meinen lieben Eltern in Dankbarkeit; in Kurzmitteilungen, Vorträgen, voluminösen Tagungsdebatten auf wissenschaftlichen Konferenzen. Viel zu wenig beachtet wird dabei bislang die Rolle des Tätowierens für des Captains tragisches Schicksal.
Ihm war die Kunst des Verbringens von Farbstoffen unter die Haut seit einem ersten Besuch auf Tahiti bekannt. Genauestens beschreibt er die Ritzwerkzeuge, flache Knochen- und Muschel-splitter, und sagt zur Herkunft des Rußes, er stamme von einer als Lichtquelle dienenden Ölnuß. Die markierten Teile des Körpers seien für mehrere Tage arg wund, ehe sie heilen, schreibt er, und wenn endlich die Abbilder von Vögeln und Fischen und Hunden oder allerlei Schlangen- wie Mäandersymbole auf menschlichen Rücken, Schenkeln, Gesäßteilen, Armen prangen, sei vorher manch Tropfen Blut geflossen. Sooft die Insulaner uns schreiben sahen, berichtet ein Midshipman, deuteten sie, die selbst keine Schrift kannten, auf unsere Buchstaben und sagten: Tatoo.
Nach jener ersten Bekanntschaft mit dem Tätowieren blieben James C. noch zehn Jahre zu leben. In dieser Zeit ist seine Vertrautheit mit den Techniken ozeanischer Körperverzierung allmählich gewachsen, und schließlich war er derjenige Europäer, der nicht nur hinsichtlich der Verteilung von Land und Wasser im größten der Ozeane, sondern auch in der Kunst des Tätowierens am erfahrensten war. Im Augenblick seines Todes an jenem Strand von Hawaii war sein Körper über und über mit Zeichnungen, Diagrammen, Kartenskizzen und Listen von Inselnamen bedeckt - allerdings nur an den durch Kleider verborgenen Stellen. Nie hat einer der Offiziere die Darstellungen erwähnt, auch kein einfaches Mitglied der Mannschaft; und Tagebuch führten viele. Daß selbst Frau Elizabeth keine Kenntnis von ihnen hatte, läßt den Schluß zu, die Tatoos des großen Kapitäns seien erst auf der letzten Reise entstanden, jener, von der er nicht nach England zurückkehrte. Im Zeitraum zwischen der zweiten Jahreshälfte von 1776 und Februar 1779 also.
Der genaueren Datierung mag ein Nebenumstand zu Hilfe kommen. Des Kapitäns persönliche Tagebucheintragungen enden bereits einen Monat vor seinem gewaltsamen Tod, am Tag des ersten Ankerns in der Schicksalsbucht Kealakekua. Bei dreizehn Faden Wassertiefe über sandigem Grund - diese sachliche Mitteilung, der nur noch die kurze Schilderung eines ersten Landganges in Begleitung des Hohepriesters folgt, ist das letzte authentische Zeugnis, das auf uns gekommen ist. Die Journale der anderen Herren an Bord geben auch für die folgenden Wochen erschöpfend Auskunft über die Tagesabläufe und den immer schwieriger werdenden Kontakt zu den Polynesiern.
In der Tat war das Handgemenge, bei dem C. schließlich sein Leben verlor, lediglich der Höhepunkt in einer Kette von Mißverständnissen seit Beginn des Besuchs auf Hawaii. Zwingend stellt sich also die Frage: Warum verstummt der Captain so früh?
Dabei verstummte er gar nicht. Besann sich nur einer anderen Möglichkeit, das, was er über die Südsee wußte, zu verewigen: als Tatoo auf dem eigenen Leib. Sozusagen als gestochenes Testament. Glanzstück dieser mit nichts zu vergleichenden Sammlung war eine große Karte auf seinem Rücken, mit Anschlußdarstellungen auf Schultern und Oberarmen. Er brachte sich diese Dinge alle selbst bei, nachdem er sie den Bewohnern Tahitis, den neuseeländischen Maori wie auch anderen Völkern der polynesischen Inselflur abgeschaut hatte. So hat er sich während seiner letzten Lebenswochen in aller Heimlichkeit eingeritzt, was er an geographischem Wissen über den großen Ozean an dessen Küsten erlauscht hatte. Zum Teil muß er dafür vor dem großen Spiegel in seiner Kajüte gestanden haben, bei sorgfältig verhängten Bulleyes. Offenbar hielt er es - aus welchen Gründen auch immer - für zu gewagt, seine Erkenntnisse dem mittlerweile abgebrochenen Journal oder gar dem offiziellen Logbuch anzuvertrauen. Über die Tatsache der Existenz jener ozeanographischen Tätowierungen ist sich die Fachwelt inzwischen einig; spekuliert wird lediglich noch über deren konkreten Inhalt.
Als am Tag nach seinem Tod die Hinterlassenschaft des großen Seemannes an Bord der "Discovery" versteigert wurde, ahnte niemand unter den forsch bietenden Gentlemen, wozu einige der langarmigen Zeichengeräte - neben den Zwecken der tagtäglichen Navigation und dem Anfertigen von Seekarten für die Admiralität daheim in London - gedient hatten. Einige noch in den Zirkel-schenkeln steckenden Muschel- und Knochensplitter wurden bei der Veräußerung als störende Unreinlichkeiten entfernt; dabei wären gerade sie geeignet gewesen, der Nachwelt beim Entwerfen eines völlig anderen Bildes vom großen Captain C. behilflich zu sein. So aber ging das Wissen um seine größten Entdeckungen wohl mit ihm unter. Geschichte wird von den Überlebenden geschrieben.
Der neue Befehlshaber der Expedition, der sogleich das nächste Dorf kurz und klein schießen ließ, erzwang die Herausgabe der sterblichen Überreste des großen Toten. Doch bekam er eben auch nur genau das: übriggebliebene Reste. Er entschloß sich, sobald unter den angekohlten, teilweise schlimm benagten Knochen die seit einem Pulverunfall verkrüppelte rechte Hand erkannt werden konnte, sofort zur Seebestattung. Damit unterblieb eine genauere Untersuchung der Frage: was war da herausgegeben, was einbehalten worden?
Diese Dinge sind auch heute noch ungeklärt. Hatten die Mörder es gezielt auf bestimmte Körper- oder besser gesagt Kartenteile abgesehen? War die ruchlose Tat etwa nur ein Rauchvorhang für das, was damals eigentlich geschah: die gewaltsame Übernahme geballten, in Generationen gesammelten kartographischen Wissens anderer Polynesier durch die Einwohner Hawaiis, vermittelt durch einen europäischen Seefahrer und Kartenmacher?
Die Rekonstruktion jenes tragischen Todes am Rande des Wassers der Bucht von Kealakekua ist schwierig, wenn nicht inzwischen gar unmöglich. Die Vielzahl der bislang versuchten - verbalen wie bildlichen - Darstellungen kann nicht über den einen Umstand hinwegtäuschen: keiner der direkt an des Captains Seite fechtenden Briten hat überlebt; es gibt keinen Bericht eines unmittelbaren Augenzeugen. Da der tödliche Streich - dies konnte auch aus der Ferne beobachtet werden - erst in dem Augenblick geführt wurde, da der Kapitän den Insulanern den Rücken zukehrte, um seine Leute in die Boote zu schicken, muß man von einem plötzlichen Sinneswandel der Polynesier im Augenblick dieser Kehrtwendung ausgehen. Der Vorgang hat die unterschiedlichsten Deutungen erfahren, bei den meisten davon schimmert der Zweck unübersehbar durch: die Beförderung einer akademischen Laufbahn des oder der Deutenden. C. wurde von den Hawaiiern als Gott verehrt, und da er sie zu verlassen drohte, töteten sie ihn, heißt die gängigste Lesart; sie gilt inzwischen als zu eurozentrisch, ist folglich immer wieder erbittert verdammt, aber auch - mit nicht geringerer Erbitterung - immer neu verteidigt worden. Die Debattierenden haben einander als Rassisten und Pidgin-Anthropologen beschimpft. Dabei liegt, was wirklich geschah, eindeutig auf der Hand.
Die Situation war zum Bersten gespannt. In der Nacht war ein Beiboot entwendet worden, ein Kutter, den C. für die genaue Küstenerkundung unbedingt brauchte. Die Insulaner sahen diesen Vorgang nicht notwendig - wie die Briten - als Diebstahl an, sondern eher als Ausgleichszahlung im umfänglichen Tauschgeschäft mit ihren Schweinen und Früchten, in das die Ankömmlinge Glasperlen und Eisenwerkzeuge einbrachten, damit die Preise bestimmend. Der Captain ordnete eine Blockade der Bucht an, er wollte ein Verbringen des Kutters in andere Teile der Insel verhindern. Gleichzeitig ging er mit militärischer Bedeckung an Land, um einen Häuptling und dessen zwei Söhne als Geiseln an Bord zu nehmen. Sie sollten, so sagte er ihnen, sofort freikommen, war das Boot erst wieder in britischer Hand. Der Vorgang war andernorts zu oft durchgepaukt worden, und zwar immer erfolgreich, als daß dem C. ausgerechnet jetzt Zweifel an der Zweckmäßigkeit hätten auftauchen sollen; an eine moralische Bewertung dachte er wohl überhaupt nicht.
Auch diesmal schien alles glatt zu gehen. Der Häuptling folgte seinen Entführern gutwillig; er rief seine Söhne herbei und sie folgten ihm. Doch kaum hatte der Trupp das Ufer der Bucht erreicht, wo Boote mit noch mehr bewaffneten Briten warteten, sah man sich einer aufgebrachten Volksmenge gegenüber. Die Situation explodierte, als ein Läufer Nachricht vom Tod eines Insulaners draußen auf dem Wasser brachte. In Durchsetzung der vom Captain befohlenen Blockade hatte ein Kanonenschuß der "Discovery" eins der Auslegerkanus zerfetzt.
Nun gab es kein Halten mehr. Die Insulaner verlangten von ihrem Häuptling, nicht mit an Bord des fremden Schiffes zu gehen. Als C. sich ins Mittel legen und den Mann zu den Booten hin abdrängen wollte, wurden sie tätlich. Daraufhin eröffneten die britischen Seesoldaten von den Beibooten her das Feuer aus ihren Musketen. C., tiefinnerst erschrocken über diese Entwicklung der Dinge, wandte sich seinen Leuten zu mit dem Befehl, das Schießen sofort einzustellen.
Im Augenblick, da er den erzürnten Hawaiiern den Rücken kehrte, traf ihn die Spitze eines der Dolche, die in den Tagen zuvor in den Besitz der Eingeborenen übergegangen waren. Der Streich war nicht tödlich, ja, er verletzte C. kaum. Doch er ließ den Kapitän straucheln, und bei der heftigen Bewegung, die er - wie es zunächst schien, nicht ohne Erfolg - ausführte, um ein Hinschlagen zu vermeiden, platzte der Rücken seines Waffenrocks weit klaffend auf. Die Dolchspitze hatte die Mittelnaht angeritzt.
In dem Augenblick, da die Insulaner die große Karte auf dem Rücken des Wankenden prangen sahen und somit plötzlich erahnen konnten, welche Geheimnisse der Fremdling an seinem Körper barg, war das Schicksal des Kapitäns besiegelt. Dieser Mann, den sie als als Gott (oder doch - dieser Streit soll hier nicht entschieden werden - zumindest als gottähnliches Wesen) verehrten, war nicht nur Bote außerweltlicher Weisheit, er selbst war die Botschaft. Das Wort Offenbarung muß her, um den Vorgang einigermaßen beschreiben zu können; der Sachverhalt ist wohl nur dem Ertönen göttlicher Stimmen aus brennenden Büschen vergleichbar. Die Hawaiier erblickten den Zipfel der Botschaft, nun wollten sie das Ganze. Ein Keulenschlag streckte C. zu Boden, mit einem sorgfältig geführten Messerstich - an der Halsschlagader, dort, wo er nicht tätowiert war - wurde er getötet. Die von einem der Leutnants getroffene Feststellung, C. sei als Opfer der eigenen Menschlichkeit umgekommen, weil er versucht habe, seine Bedränger vor britischem Musketenfeuer zu retten, stimmt nur bedingt. Er hätte die eigene Menschlichkeit überlebt, wären da nicht jene Tatoos gewesen, die nur bekam, wer ihm die Haut abzog.
Über den Inhalt der Darstellungen auf Rücken, Brust, Armen, Beinen, Gesäß und Bauch sind, wie gesagt, allenfalls Vermutungen möglich. Fest steht, daß in den Jahren nach seinem Tod eine fieberhafte Geschäftigkeit der Hawaiier auf See zu beobachten war. Die Expeditionen erstreckten sich sämtlich in Gegenden, die C. zuvor besucht hatte und hörten erst auf, als die Hawaii-Inseln in den Griff der nächsten Welle europäischer und amerikanischer Kulturbringer gerieten: Walfänger, Missionare, Pflanzer.
Captain C. allein wußte um die Gründe, die ihn das, was er sich auftätowierte, den Logbüchern fernhalten ließ. Vielleicht hat er das Rätsel der sagenhaften Terra australis incognita wirklich gelöst.
Er war nicht nur mit Leib und Seele Entdecker, sondern auch mit Haut und Haaren - das zumindest läßt sich heute von ihm sagen. Im übrigen aber: Was wissen wir schon von ihm.
© Otto Emersleben


Veröffentlicht 2006 in: Aktuelle Dermatologie, Heft 4.